angeregt durch Texte, Zitate, Dialoge, Begegnungen
angeregt durch Sehen, Hören, Fühlen

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Wir haben die Erde nicht von unseren Vätern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen. Das bedeutet, die Erde nicht schlechter zurückzugeben als wir sie empfangen haben. Wir haben dies aber in vielerlei Hinsicht verpasst. Umwelt, Luft, Wasser, Wald, Werte des Lebens.

Es mangelt nicht an wissenschaftlichem Fortschritt und an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das kann zum Weiterleben, zum Überleben ausreichen. Aber verunsichert sind wir doch, um so mehr als wir im Bereich des Nichtbegreifbaren im Begriff stehen, die wenigen Wurzeln, die wir noch haben, zu verlieren. Heisenberg sagt: „Es gibt Dinge, über die man sich einigen kann und die Dinge, die uns etwas bedeuten. Von den Dingen, über die man sich einigen kann, handelt die Wissenschaft. Die Dinge, die uns etwas bedeuten, spricht die Kunst aus.“ Das heißt, dass die Kunst etwas andeutet, etwas deutet, was für uns wichtig und sinnerfüllt ist und was sich der Einigung im Urteilsprozess entzieht. Sinnerfüllung heißt für mich: Wir müssen die Kunst – die Musik, die Literatur, die gesamte Kunst – wir müssen also die Kunst mit Sinn erfüllen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Kunst ist das Erzeugen von Gestalt um der Gestalt willen. “ Und er wagt die Vermutung, dass eine Wesenszusammengehörigkeit zwischen Gestalt und Glück besteht.

Künstlerisches Wirken hat seine Wurzeln im Intuitiven, im Unterbewusstsein, im Seelischen, im Fühlen, in der Fantasie, im Traumhaften, im künstlerisch Visionären, im Irrationalen. Traditionelle Sinnstiftungen haben für viele Menschen ihre umfassende Hülligkeit verloren. In der Begegnung mit Kunst werden Antworten und Lebensentwürfe gesucht. Das bedeutet für mich: der Mensch muss als Individuum erreicht werden, das in der Begegnung mit dem Kunstwerk bereichert, verändert, auch erschüttert wird. Sorgen wir dafür, dass die Kunst nicht im kollektiven Konsum ihren Sinn verliert. Der Künstler muss einen Mitvollzug des Kunstwerkes erzwingen. Kunstwerke dürfen nicht wie fertig bezogene Schemata vorgeführt oder konsumiert werden. Wir sollten nicht nach Perfektion, sondern nach Aussage, nach Spontaneität, nach Sinngebung und auch nach Verzauberung urteilen. Gestaltung ist die Sprache des künstlerischen Erkennens. Der Mensch sollte im Mittelpunkt unseres Wirkens stehen. Wir investieren nun auf der einen Seite alles, keine Ausgabe ist uns zu hoch, aber Sinnerfüllung und wirkliches Glück, was ist uns das wert? Sollen wir, Überlebende zwar, aber doch nur Roboter, Vorteil Suchende, Orientierungslose, Verängstigte sein, ohne etwas, was uns hält, trägt oder auch einmal fliegen lässt, wie in „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“ oder für ein paar Sekunden „Glückes genug“, wie in den Kinderszenen von Robert Schumann?

Was ist ein künstlerischer Mensch in unserer Welt, in unserer Zeit? Und finden wir uns noch im „finstern Lauschenden“ wie bei Ernst Barlach? Singen wir noch auf dem Weg nach Hause vom Konzert dieses Thema, wie in „Doktor Faustus“ von Thomas Mann und singt das „Sterbende Kind“ noch seine Melodie auf seinem Weg nach Hause?

Sind wir wirklich unsicher, wozu Kunst, wozu Musik die Unzerstörbaren in uns und unserem Leben sein sollten, in welcher Form und Gestalt auch immer? Oder müssen wir uns erst das Gegenbild vorstellen: Leben ohne Mozart? Oder ein Bild des Amerikaners Stevens, das der Nobelpreisträger Manfred Eigen in seinem Buch „Perspektiven der Wissenschaft“ aufgenommen hat und folgendermaßen mit den Worten umschreibt „Genies, ein genetisches Erbe der Menschheit, das ihnen von den Göttern eingehaucht wurde. Ohne die Vielfalt genialer Leistungen wäre unser Leben öd und leer“. Und dieses Bild zeigt unsere Erdkugel als kahlen Hügel, auf dem gerade noch ein paar Blechdosen und weggeworfene Flaschen liegen. Eben ein „Life without Mozart“.

Wir dürfen unsere geliehene Erde nicht ohne Mozart – nicht ohne Kunst – zurückgeben. Es geht um Weiterreichen und Erhalten schlechthin. Wir brauchen keinen Beweis dafür, dass Kunst in uns Menschen etwas bewirkt, uns befreit, uns weitet, uns ohne Worte sprechen lässt und Unzerstörbares, das möchte ich vor allem betonen, Glück hinterlässt. Das ist nicht Bildungspolitik, das ist Überlebenspolitik, sofern das Wort Politik in diesem Zusammenhang überhaupt zu halten ist.

Die Kunst gibt uns ungeheuer viel Gemeinsames – die Aufgabe, die unglaubliche Orientierungslosigkeit abzubauen, Maßstäbe zu setzen und zu finden, die Frage der geistigen Gesundheit anzusprechen, Belastungen kennenzulernen, Enttäuschungen vorzubeugen, Gefahren zu kennen, einen sechsten Sinn zu haben, vorauszuahnen, eine gute Hand zu haben, enge Zusammenarbeit zu suchen mit allen in Frage kommenden Persönlichkeiten und Institutionen, Zeit zu haben, Gespräche zu führen mit unseren Mitmenschen, Schwäche einzugestehen, Mensch sein und weiterzulernen. – Und wann soll all das geschehen?

Wozu, für wen, warum? Und diese dreifache Fragestellung, das Wozu ist eben gar nicht so einfach zu beantworten – eigentlich gibt es gar keine Antwort auf die Frage: Wozu brauchen wir Kunst, Musik in unserem Leben? Ein Musiker oder Künstler muss nicht notwendigerweise ein guter Mensch sein. Es ist nicht so, dass Musik, Kunst uns einfach verbessert. Das muss noch ganz woanders sitzen.

Auch das Freisetzen von Emotionen, das ist zwar ungeheuer viel, aber das ist nur ein Teilbereich. Es sitzt irgendwo viel tiefer und lässt sich nicht einfach beweisen. Auch was Heisenberg sagt: Das bedeutet etwas, das deutet an, das deutet. Näher kommen wir da nicht heran. Aber das ist in entscheidenden Momenten des Lebens so, und das sind nur wenige, und sie irgendwann ein paar Mal im Leben erleben zu dürfen, ist eben ungeheuer wichtig. Wir sind da an einer Stelle, die wirklich sehr zart ist – aber darum geht es.

Prof. Matitjahu Kellig, Juli 1998